Bei der Erwähnung von Achtsamkeit entstehen sicherlich bei vielen Bilder vor dem geistigen Auge von in sich versunkenen Menschen im Schneidersitz am Strand oder vor stiller Seenlandschaft. Ein leichter Duft von Räucherstäbchen umweht die Nase, und ein verzückt lächelnder, goldener Buddha schwebt vorbei, während ein leises „Oommmm“ und das „Kling“ einer kleinen Glocke ertönt.
So weit so klischeehaft.
Es ist richtig, dass das Konstrukt der Achtsamkeit (engl. Mindfulness) als aufmerksamkeitsbezogene Haltung den meditativen Praktiken aller buddhistischer Traditionen zu Grunde liegt (Wikipedia). Doch hat sich die Technik schon längst von der religiösen Verbindung zum Buddhismus gelöst. Selbst der Dalai Lama, Oberhaupt der tibetischen Buddhisten, trennt Achtsamkeit ganz bewusst von religiösen Praktiken (Quelle).
„Wenn ich über die Vorzüge von Achtsamkeit und Mitgefühl spreche, dann hat das für mich nichts mit religiösem Glauben zu tun, sondern mit Erfahrungen. Wissenschaftliche Erkenntnisse und der gesunde Menschenverstand sagen uns, dass es uns besser geht, wenn wir positive Qualitäten in uns entwickeln. Selbst wer sich nur ein paar Wochen etwa in Mitgefühl schult, erfährt, dass sich der Blutdruck senkt, der Stress verringert und er sich wohler fühlt. Jeder von uns kann das selbst nachprüfen. Das ist der springende Punkt: Wir brauchen die Schulung des Geistes, um ein besseres Leben führen zu können.“
Genau diese Loslösung der Achtsamkeit vom buddhistischen Fundament beklagen viele wiederum und sprechen von „McMindfulness“, also dem inflationären Gebrauch des Begriffs, der geradezu eine Achtsamkeitsökonomie hat entstehen lassen. Es gibt zu allem Ratgeber, egal ob es um achtsame Kindererziehung, achtsames Lehren, achtsame Politik, achtsames Management, achtsame Therapien oder achtsamen Sport geht, es gibt nichts, das es nicht gibt.
Ist denn nun Achtsamkeit schlecht, weil es wie viele Trends so schnell ökonomisiert wurde? Alles nur Modeerscheinung, Hype und Wichtigtuerei?
Wohl eher nicht, denn immer mehr Menschen fühlen sich von den rasanten Veränderungen der Welt, den Bedrohungen der eigenen Komfortzonen, den Unsicherheiten, die mit dem Wandel verbunden sind, überfordert. Sie verspüren Kontrollverlust über ihr tägliches Leben, fühlen sich getrieben, gestresst und fremdbestimmt und suchen nach Wegen, zu mehr Ruhe, Ausgeglichenheit und weniger Stress. Und hier können Achtsamkeitstechniken tatsächlich helfen und erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Auch der bekannte Trendforscher Matthias Horx identifizierte kürzlich Achtsamkeit als den bestimmenden Trendbegriff der kommenden Jahre.
„In einer überreizten und übervernetzten Welt versuchen immer mehr Menschen, ihre eigene mentale Souveränität wieder herzustellen. […] Achtsamkeits-Menschen verabschieden sich von den immer schrilleren Sensationen und Angst-Produktionen der Medien. Sie steigen aus dem Panik- und Paranoia-Diskurs aus und wenden sich wieder den menschlichen Beziehungen zu. Sie sind achtsam nicht nur der Welt und den Mitmenschen gegenüber, sondern auch den eigenen Gefühlen gegenüber. Sie lernen, ihre innere Angst vor der Zukunft zu moderieren. Sie verstehen, wie ihr Selbst mit der Welt zusammenhängt“, so Horx.
Kein Guru in weiten Gewändern
Jede Lehre hat ihre Vorreiter und Köpfe und beim Thema Achtsamkeit kommt man nicht an Jon Kabat-Zinn vorbei. Kabat-Zinn ist emeritierter Professor an der Universität von Massachusetts und unterrichtet Achtsamkeitsmeditation. Vor allem ihm ist es zuzuschreiben, dass sich die Achtsamkeitspraxis in Medizin und Gesellschaft etabliert hat.
Kabat-Zinn entwickelte das Programm der Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR), in dem teilweise aus Hatha Yoga, Vipassana und Zen stammende, aufeinander abgestimmte Aufmerksamkeitsübungen und die Achtsamkeitsmeditation miteinander verbunden sind. Das MBSR-Training wirkt unspezifisch auf den psychosomatischen Gesamt-Gesundheitszustand. In klinischen Studien konnten positive Wirkungen der MBSR-Kurse bei der Behandlung von chronischen Schmerzzuständen, häufigen Infektionskrankheiten, Ängsten oder Panikattacken, Depressionen, Hauterkrankungen, Schlafstörungen, Kopfschmerzen und Migräne, Magenproblemen und dem Burn-out-Syndrom nachgewiesen werden.
Jon Kabat-Zinn hat im März 2015 der Frankfurter Allgemeine Zeitung ein Interview gegeben und sich zu Smartphone-Sucht und modernen Manager-Krankheiten geäussert.
Doch wie genau funktioniert nun so ein Achtsamkeitstraining? Was sind die zentralen Bestandteile?
Nähern wir uns dieser Frage einmal über den Begriff „Achtsamkeit“. Hierin sind zwei Worte erkennbar: „Achtung“ und „Aufmerksamkeit“, die beide zentrale Rollen einnehmen.
Aufmerksam zu sein heißt zunächst, etwas zu bemerken. Menschen oder Dinge ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich, lenken sie. Wir können unsere eigene Aufmerksamkeit aber auch selbst ausrichten und auf etwas richten. Damit ist Aufmerksamkeit immer zielgerichtet, auf eine Tätigkeit, auf einen anderen Menschen, auf die eigenen Gefühle und wir können anderen sogar unsere Aufmerksamkeit schenken.
Achtung ist hier verstanden im Sinne von Respekt und Wertschätzung. Achtung vor anderen Personen, mir selbst, Situationen oder Gefühlen heißt, zunächst diesen Raum zu geben, sie zuzulassen und zu respektieren. Dies geschieht wertfrei, also ohne zu urteilen oder Änderungswünsche zu formulieren.
Hierdurch entsteht eine zeitliche Verzögerung, eine Verlangsamung, die uns Zeit gibt, erst einmal abzuwarten und nicht gleich zu urteilen. Bevor man spontan reagiert und entscheidet, ob etwas gut oder schlecht, angenehm oder störend, furchtbar oder gar nicht so schlimm ist, richtet man die eigene Aufmerksamkeit neutral nur auf das was ist. Dies schafft die Gelegenheit, mehr Informationen aufzunehmen, zum Beispiel indem wir in einem Gespräch wirklich zuhören und nicht schon währenddessen unsere eigene Antwort im Kopf formulieren.
Dies hört sich nun ganz einfach an, ist es aber nicht. Achtsamkeit müssen wir üben, denn wir neigen dazu, allzu leicht in unsere gewohnten Verhaltensmuster zurück zu fallen. Das Gute an Achtsamkeitsübungen ist aber, dass man sie überall in seinen Alltag einbauen kann.
Anstatt also morgens unter der Dusche schon die ersten Aufgaben oder Meetings im Kopf durchzugehen, einfach einmal fühlen, wie die Tropfen auf Gesicht und Körper treffen, wie das Wasser herunter rinnt, wie sich das Rauschen anhört, das Duschgel riecht. Alle Sinne werden auf das Hier und Jetzt gerichtet und nicht auf die Zukunft.
Beim Frühstücken kann man einfach einmal das Smartphone oder Tablet liegen lassen, die Augen schließen und die Nase in den Kaffeebecher stecken, den Kaffee wirklich riechen und dann ganz bewusst einen Schluck trinken.
10 Tipps für Technologie-Junkies
Ich habe einmal zehn Achtsamkeitsübungen für Technologie-Junkies zusammengestellt, die man sich hier herunterladen kann: 10 Achtsamkeitstipps für Technologie-Junkies.
In den App-Stores gibt es eine Fülle von Applikationen, mit denen man meditieren oder Achtsamkeit üben kann. Wir haben vor, diese zu testen und hier bei uns vorzustellen. Wer uns dabei unterstützen möchte, spreche uns bitte unbedingt an: heike∂thedignifiedself.com.
Nicht für jeden ist das Üben für sich allein der richtige Weg. Dann empfiehlt es sich, Achtsamkeitstrainings zu besuchen und dort unter Anleitung einer Trainerin zu lernen und zu üben. Dort wird man auch das Meditieren lernen, das einem bei Stressabbau und Entspannung sehr helfen kann.
Eine Gruppe unter professioneller Anleitung sollte man auf jeden Fall aufsuchen, wenn bereits Probleme bestehen. Denn das Richten der Aufmerksamkeit auf bestimmte persönliche Aspekte, zum Beispiel einen chronischen Schmerz, kann diesen auch verstärken. Gespräche in der Gruppe und auch die Trainerin können hier mildernd auf eventuell auftretende Probleme einwirken.
Da Achtsamkeit jedoch eine sanfte Methode ist, kann das Schädigungspotenzial als sehr gering angenommen werden. Dennoch raten Psychologen bei bestimmten Personengruppen zur Vorsicht: Menschen mit Depressionen oder Psychosen, Suchtkranke oder körperlich Kranke wie z.B. Schmerzpatienten.
Los! Entspann Dich! Jetzt!
Und jedem, der sich mit Achtsamkeit beschäftigt sollte klar sein, dass es keine Wunderheilung gibt. Sie kann uns aufmerksamer, entspannter und gelassener machen. Doch sollten die Achtsamkeitsübungen nicht zu weiterem Stress führen, weil man sie unbedingt in einen schon vorher übervollen Alltag pressen will oder die Erwartungshaltung so hoch ist, dass wenn kein spürbarer Effekt eintritt, negative Gefühle aufkommen, weil man sich als Versager fühlt.
Wer aber seine Achtsamkeitsübungen achtsam durchführt, kann sehr positive Effekte erzielen, die die Lebensqualität auf vielen Ebenen steigern, ohne sich selbst damit zu schaden.
Was sind Eure liebsten Achtsamkeitsübungen und wie bindet Ihr sie in Euren vielleicht hektischen Alltag ein? Erzählt uns davon in unseren DIGNIFIED Momenten.